1. Reisebericht in KaWe - Kurier 20/03

Deutschland
Wildau - Frankfurt(Oder)/poln. Grenze, 1. Mai, km 100

Keine Zeit, keine Zeit - geht es mir im Kopf herum. Die Adresslisten noch ergänzen, die wichtigsten Dokumente noch kopieren und scannen, alles ausdrucken, den Eltern und Freunden noch erklären, was zu tun ist und, und, und. Mir dröhnt der Kopf. Nachts um zwei schalte ich den Computer aus. Um fünf stehe ich wieder auf. Meine Maschine muss mit allen Gepäckträgern, Kisten und Packtaschen noch von Frankfurt nach Wildau überführt werden.

In Frankfurt hatten wir bei meinen Eltern eine 1a-Werkstatt plus einer sagenhaften Unterstützung ihrerseits, um die 2 Yamaha-Enduro-XT600er mit allem auszurüsten, was für ein solches Projekt nötig ist: Gepäckträger vorn und hinten, hinten rechts und hinten links jeweils eine Kiste, eine Topkiste, dann diverse Halterungen und zu guter Letzt zwei Packtaschen für insgesamt 12 Liter Trinkwasser und zwei Packtaschen für jeweils einen 5-Liter-Benzin-Kanister. Um sechs dann los nach Wildau. Bis Wildau geht alles gut. Dann bei 40 km/h (ein Glück) macht es Krach, Rabautz, Pum, Pum, Pum. Oh Gott, was ist jetzt passiert? Die Flügelmuttern, die die linke Seitenkiste hielten, haben sich durch die Vibration gelösst. Die schöne neue Alukiste ist ohne Vorankündigung mit dem eben beschriebenen Geräusch auf den Asphalt gekracht.

Zum Glück ist heut der 1. Mai früh um sieben und die Leute gehen schon lange nicht mehr marschieren. Diese uniforme Bewegung wäre so und so auch nichts für mich. Es soll sogar Leute geben, die an solchen Tagen das schon sehr milde Wetter nutzen, um nach Shanghai aufzubrechen...

Gut, Kiste schnell oben aufgeschnallt und zur Wohnung von Lo, meinem Reisebegleiter. Zwei Stunden noch bis zur Abfahrt. Die mitzunehmenden Sachen sind im ganzen Wohnzimmer auf dem Boden verstreut. Wahrscheinlich durch ein Wunder gelangt alles fast doch noch rechtzeitig an den Platz, wo es vorläufig erst einmal hingehört. Ulli, ein Freund hilft die nun mörderisch schwer gewordenen Kisten, die zwei Reifen, die Gitarre und die Packtaschen sicher am Krad zu befestigen. Zum Schluss noch den Schlafsack plus Isomatte am Lenkergepäcktrager verstaut und los. Man ist das ein unsicheres Gefühl! Wie zwei Türme zu Babel schwanken wir aus den kleineren Strassen auf die Hauptstrasse. Ich stell beruhigend fest: mein Partner wackelt genauso wie ich durch die Landschaft. Da heisst es vorsichtig sein, keine unüberlegten Handlungen, sonst liegen wir auf der Nase und sind noch nicht einmal losgefahren.

An einem anderen Treffpunkt erwarten uns dann die Freunde, die uns Lebewohl sagen wollen. Doch um ganz sicher zu gehen, dass wir auch wirklich abfahren, wollen sie uns noch bis zur Stadtbrücke in Frankfurt begleiten. Ich merke, ich verkrampfe mich, halte den Lenker fest umklammert. Wieso ist ausgerechnet heute so ein starker Seitenwind? Keine Sorge, die Freunde fahren hinter mir und haben meine vor vier Stunden desertierte Alukiste fest im Visier. Dann endlich biegt der neun Maschinen starke Konvoi nach rechts ab in die Rosa-Luxemburg-Strasse, die bergab geradewegs auf den Grenzübergang führt. Vor der letzten Kreuzung, was ist das? Paparazies? Nein, zum Glück nur meine Eltern. Die Fotos werden dann wohl alle Bekannten und Verwandten sehen. :-)

Vor dem Schlagbaum rechts auf dem Bürgersteig, denn auf der Strasse ist Halteverbot, dann grosse Verabschiedungszeremonie. Ich mag das nicht mit Tränen und so. Mein Gott Leute! Wir kommen doch wieder! Mama darf das, das ist ok! Aber fangt nicht ihr auch noch an! Jede Umarmung ist so intensiv, wie nie. Ich krieg kein Wort raus. Mein Frosch im Hals fühlt sich jetzt bestimmt wohler als ich. Mama tut mir wirklich Leid. So viel Sorgen um den Sohnemann hat sie nicht verdient. Auch Lo und ich sind den Tränen nahe. Wenn einer anfängt auf die Drüse zu drücken, dann wird es auch für uns schwer an uns zu halten. Zwei Personen sind heute mit Absicht nicht gekommen. Unsere beiden italienischen Freundinnen Dona und Giulia. Wir können es ihnen nicht verdenken. Solch eine Unternehmung macht man am besten als Single. Doch wir fahren nun trotzdem los und fühlen uns ziemlich Arschloch, ihnen so etwas anzutun. Warum? Warum trotzdem die Reise? Darüber mag sich jeder selber seine Meinung bilden. Es ist für mich der einzig schwerwiegende Punkt, mit dem ich hart zu kämpfen habe. Dieses Problem lässt mich nicht los.

Nach allen Umarmungen und Glückwünschen steigen wir nun schwer ergriffen auf unsere XTs und ordnen uns in die kleine Warteschlange vor dem ersten Schalter ein. Nach der Ausweiskontrolle und einem kleinen Plausch mit dem Grenzbeamten können wir es kaum glauben. Wir rollen über die Oderbrücke und mit einem lauten "Plansch" plumpst ein grosser Stein, der mir gerade noch den Magenausgang versperrte, in den ruhig dahinfliessenden Fluss.