18. Reisebericht in KaWe - Kurier 17/04

China I
Erenhot - Jining, 20. - 24. September 2003, km 17200

Nie hätten wir geglaubt, die Grenze von der Mongolei zu China so einfach und unkompliziert passieren zu können. Unser bisher grösstes Problem der Reise, an dem wir über ein Jahr im Voraus herumgedoktert haben, löst sich mit einem Mal in chinesische Luft auf.

Die folgenden Tage nach Grenzübertritt nutzen wir dazu, uns an die neue Umgebung zu gewöhnen. Spätestens hier in China beweisst uns jeder Tag, dass wir mittlerweile nicht mehr durch Europa reisen. Alles ist hier anders. Obendrein vermittelt uns der krasse Gegensatz von mongolischer zu chinesischer Lebensweise den Eindruck, soeben in eine andere Welt gebeamt worden zu sein. Wo noch Jurten an Jurten und Bretterbuden an Bretterbuden im Verbund eine mongolische Stadt verkörperten, und die Mongolen anscheinend sich selbst überlassen träge in der brütenden Mittagshitze an einer schattenspendenden Häuserwand lehnten, reihen sich hier schon in Stadtrandnähe Werkstätten an Ersatzteilläden, Lebensmittelgeschäfte an Garküchen. Überall wird geschraubt, gebohrt, geschweisst und gehämmert. Im Stadtzentrum angelangt, kündigen grosse, weite Plätze unübersehbare Denkmäler und glasummantelte Hochhäuser die Wichtigkleit des sich vor uns eröffnenden Stadtviertels an. Fahrräder über Fahrräder kreuzen unseren Weg. Rikschas noch in Beinarbeit angetrieben lassen allmählich unsere Überzeugung reifen, dass wir nun doch in China gelandet sind.

Wenn wir etwas abseits vom Hauptstrassenrummel in kleinen Gassen vor Anker gehen, um die alltäglichen Dinge zu erledigen, dauert es trotzdem nicht lange und eine riesige Menschentraube klebt um unsere Moppeds herum. Anfangs lassen wir unseren Kopf wie eine Rundumleuchte rotieren, um schwarze Schafe, die sich ein Souvenier ergattern wollen zuvor zu kommen, doch bald lernen wir, die immer wieder entstehenden Menschenansammlungen lockerer zu händeln, denn der Grossteil der sympatischen Schlitzaugen verkreuzt symbolisierend die Hände hinter dem Rücken und lässt nur die Blicke schweifen. Einige sind mutig und klopfen auch schon mal gegen die Alukisten oder drehen vergleichend zu ihren kleinen Maschinen interessiert am Gasgriff, nur macht niemand Anstalten, die Sitzbank ausprobieren zu wollen oder das Gleichgewicht der auf dem Seitenständer abgestellten Maschine in Frage stellen zu wollen. Jeder Chinesenkontakt verläuft auf einem uns ungewohnten Niveau friedvollstem Wohlwollens. Als ob die Umherstehenden alle unter Drogen stehen, lächeln sie uns an, sowie wir in ihre Gesichter blicken.

Wieder auf der Landstrasse unterwegs fahren wir an einem parkenden Polizeiauto vorbei. Der erst noch dösende Ordnungshüter erkennt erst, als wir uns bereits wieder entfernen, was ihn eben passiert hat. Mit einem Satz springt er auf den Asphalt und schaut uns verdutzt hinterher. Wir warten verdeckt hinter der nächsten Biegung um ihn nicht ins Netz zu gehen, falls er uns nachsetzen wollte, aber nichts passiert. An anderer Stelle versperrt uns eine Mautstation mit ihrem Schlagbaum die Passage. Jetzt wird es wohl den ersten Trouble geben, sagen sich unsere ausgetauschten Blicke, doch auch hier öffnet der Uniformierte bereitwillig die Schranke und deutet uns den Verkehr nicht weiter aufzuhalten. Selbst der dahinter parkende Toniwagen bewegt sich keinen Zentimeter. Verdutzt können wir nur noch mit den Schultern zucken.

Die nächsten Tage gehen schnell in's Land. Die chinesischen Strassen sind gut ausgebaut, doch ein sorgloses, träumerhaftes Dahincruisen wäre hier unverantwortlich. Dennoch kommen wir im Vergleich zur Wüstendurchquerung gut voran. Grosse Schwierigkeiten bereitet uns das unberechenbare Verhalten der Chinesen im Strassenverkehr. Das Wort Chaos könnte nicht besser definiert werden. Mit einiger Praxis im hiesigen Strassenverkehr erscheint es uns geradezu lächerlich, warum die armen Fahrschüler zu deutschen Landen mit so viel Verkehrsregeln konfrontiert werden. Hier gibt es nur eine: Wer das grössere Fahrzeug bzw. die stärkeren Nerven besitzt, hat Vorfahrt. Ampeln vervollständigen hier nur das Aussehen einer Kreuzung. Auch ist mir völlig neu, das eine Unzahl an Chinesen zu professionellen Kamikaze ausgebildet wurden.

Auf einer vielbefahrenen Strasse, wie man sie in China nicht lange suchen muss, quert nicht selten ein rechts vor uns fahrender Lebensmüder unsere Fahrbahn und zieht in malerischen Bogen nach links rüber, weil ihm soeben eingefallen ist, dass er ja für heute abend noch Essstäbchen besorgen sollte. Treckerfahrer, deren Vehicle noch nie eine Motorabdeckung gesehen hat und seine sich drehenden museumsreifen Bauteile zur Schau stellt, beherrscht exakt das gleiche Kunststück, sodass wir manchmal nur noch mit Mühe und Not ein Keilriemenmassaker verhindern können. In Apathie verfallene Fussgänger erinnern mich oft an die berühmten 3 Affen, die sich blind, taub und stumm ausgeben. Ohne einen Blick dem bedrohlich geschwinde näherkommenden Verkehr zu widmen, laufen sie wie Schlafwandelnde über die Fahrbahn. Zahlreiche Beispiele strapazieren unsere Nerven bis wir irgendwann in diesem Chaos ein System entdecken.

Die uns Europäern anhaftende Zielstrebigkeit und der Hang zu Effizienz, welche sich auch im Fahrverhalten tief eingraviert befindet, tragen Schuld an unseren fortwährenden "Error"-Meldungen. Nach einiger Übung schaffen wir es, uns genauso ruhig treiben zu lassen, wie die Chinesen und schon lösen sich alle Missverständnisse und Unglaublichkeiten in Nichts auf, denn ein unsichtbares Gesetz regelt alle Verkehrsabläufe von alleine.