19. Reisebericht in KaWe - Kurier 17/04

China II
Jining - Peking, 24. September - 8. Oktober 2003, km 17700

China ist ein grossartiges Land! In den ersten Chinatagen fühlten wir uns wie kleine Kinder, die ihre Welt ringsumher neu entdecken. Alles uns bisher Vertraute birgt nun faszinierende Andersartigkeit in sich. Oft stoppen wir zu einer spontanen Fotosession, um interessante Besonderheiten in unsere Kameras zu bannen. Dann kämpfen wir uns durch ein Meer von Fahrädern, Dreirädern und Rikschas. Überall klingelt und hupt es. Begeisterte Rufe und ab und zu ein "Hello" begleiten unsere Stadtdurchfahrten. Nicht selten stehen so viele Chinesen um unsere Raumschiffe herum, dass der riesige Menschenauflauf den ganzen Verkehr zum Erliegen bringt. Wo kommen die bloss alle her?

Wie Ameisen quillen Chinesen über Chinesen aus ihren typischen Garagenwohnungen hervor, immer mehr Passanten bleiben stehen und machen nicht die geringsten Anstalten, ihre unendliche Neugier zu verbergen. Wo wir in der Mongolei noch ohne jegliche Anstrengung gleich hinter dem nächsten Hügel unser Zelt aufstellen konnten, avanziert diese alltägliche Notwendigkeit mittlerweile zu einem essenziellen Problem. Die Landschaft beiderseits des Asphaltbandes ist übersät mit Terassenfeldern.

So wunderschön diese auch unsere Augen erfreuen, so wunderschön schwer gestalten sie uns auch jeden Zutritt, denn von der Strasse her führen nur Trampelpfade in's Landesinnere. Haben wir dann nach ausgiebiger Suche 3 Quadratmeter Untergrund für unsere Zeltstadt finden können, belagern uns sofort die Feldarbeiter oder Bewohner angrenzender Dörfer. Wie auf dem Präsentierteller bleibt keine unserer Bewegungen unbeobachtet. Ob zum Abendbrot oder zum Frühstück, immer begleiten uns mehere chinesische Augenpaare. Worte wie Privatsphäre, Alleinsein oder Abgeschiedenheit existieren wahrscheinlich in chinesischen Wörterbüchern nicht. Langsam nimmt die ohnehin schon hohe Bevölkerungsdichte zu. Landpassagen verschwinden. Eine grosse Stadt geht in eine andere über. Es ist unüberschaubar, Peking ist nicht mehr weit.

Schon zählen grosse Wegweiser die Kilometer rückwärts. Dann stecken wir im fetten Verkehrsstau der Stadt. Kreuzungen ringsum eingezäunt, dass die unzähligen kleinen Chinesen nicht zusätzlich verkehrsbehindernd die Strassen überqueren, schaffen ein Bild der Ordnung. Ebenso breite Extraspuren für Drahteselbenutzer, wie die eigentliche Fahrbahn, lassen den motorisierten Fahrzeugverkehr unwichtig erscheinen. Wer als Chinese etwas auf sich hält, fährt Rad.

Natürlich hat man in allen strategisch wichtigen Metropolen der Welt Freunde und Bekannte. So dürfen wir die Gastfreundschaft einer Chinesin - Rose Tian - geniessen, welche uns unweit der Stadt in ihrem geräumigen Landhaus einquartiert. Von dort aus erledigen wir alle Angelegenheiten in Chinas Hauptstadt. Am 1. Oktober ist in dem Land der Mitte Nationalfeiertag. Ein willkommener Anlass für uns, zum Tiananmenplatz (Platz des himmlischen Friedens) zu pilgern. Auf der riesigen Fläche scheint sich ganz China versammelt zu haben. Vor den Toren der Verbotenen Stadt drängeln sich unzählig viele kleine schwarze Wuschelköpfe.

Mit niedrigen Zäunen wurde die davor verlaufende Hauptstrasse abgesperrt. Plötzlich steigt erst einer, dann zwei, dann vier Chinesen über den Zaun, um auf die andere Strassenseite zu gelangen. Alle haben zugeschaut, um es ihnen sogleich nachzuahmen. Mit einem Mal bricht einer Massenhysterie aus. Jeder will über die Strasse, Polizeifahrzeuge mit Lautsprechern fordern die desertierenden Zaunhüpfer zur Rückkehr hinter die Absperrung auf. Visionen der damaligen Studentenrevolte formieren sich vor meinem virtuellen Auge. Die hiesigen Massen an Menschen sind für europäische Verhältnisse unvorstellbar. Auf einmal begreife ich, welch hohe Kunst es in sich birgt, eine Gesellschaft solch hoher Bevölkerungsdichte friedvoll zusammenzuhalten. Bisher registrierten wir einige intelligente Lösungsansätze der 1,2 Millarden Chinesen Herr zu werden, die hoffen lassen, aus der Geschichte gelernt zu haben.

Die nächsten Tage tingeln wir durch die abseits der Touristenzentren liegenden kleinen Gassen der Stadt. Hier pulsiert das wahre Leben. Betagte Chinesen sitzen auf ihren winzigen Höckerchen vor ihren Wohnungen, die zu sehr einer Garage ähneln. Ein nach oben hin geöffnetes Schiebetor gewährt Einblick in das innere einer jeden Wohnung. Im vorderen Teil stehen Verkaufstheken, schneiden Friseure Haare oder zeigen Garküchen ihr leckeres Angebot. Wirft man einen Blick in den hinteren Teil der Einrichtung, ziert meist ein Bett, eine Komode mit darauf befindlichem Fernseher und ein kleines Tischchen mit den für die Chinesen so charakteristischen Ministühlchen den Raum. Zu gern verlieren wir uns in den kleinen Strassen der Stadt. Jede Garküche offeriert uns eine andere Leckerei. Ohne Motorrad und Kombi wirken wir nicht mehr so ausserirdisch für die Schlitzaugen. So nutzen wir unseren Pekingaufenthalt, um eimal kräftig durchzuatmen, denn danach heisst es wieder: It's showtime!

Zu schnell vergehen die Tage und wie immer wären wir auch bei Rose gern noch länger geblieben, aber unsere innere Unruhe wird zunehmend grösser, denn es trennen uns nur noch ca. 1500 km von Shanghai. Ein Katzensprung wollte man meinen. So packen wir nach einer Woche unsere Sachen und starten zur nun letzten Etappe der ersten Halbzeit.