21. Reisebericht in KaWe - Kurier 18/04

China IV
Shanghai - Yichang, 13. Oktober - 10. November 2003, km 21000

Halbzeitstimmung macht sich breit. Der erste Teil unserer Reise liegt nun hinter uns. In 166 Tagen haben wir von Wildau nach Shanghai 19500 km zurückgelegt. Andere Leute würden diese Strecke, wie normalerweise üblich vielleicht in 9 Stunden in einem Flugzeug fliegend bewältigen. Eigentlich wollten wir auch anfänglich mit dem Motorrad nach Hamburg cruisen, doch an irgendeinem Abzweig müssen wir falsch abgebogen sein. Jedenfalls stehen wir nun mitten in Shanghai und sind mit einem Freund ( ebenfalls aus Wildau kommend ) verabredet. Es dauert nicht lange und schon steht unser Norman Pötzsch in knitterfrei schwarzem eleganten Anzug vor uns. Leider können wir da nicht ganz mithalten. Unsere verdreckten Motorräder und die ebenso gehaltene Motorradkombi bildet einen zu krassen Gegensatz zu seinem Dress. Nachdem er uns begeistert begrüsst hat, geleitet er uns in sein Hotelappartment. Sein drei Zimmer und 150 Quadratmeter zählende Wohnung mit Fernseher, DVD-Player und zwei Balkonen löst bei uns einen Kulturschock aus. Schüchtern setzen wir uns in die weichen Sofakissen und halten uns an der uns einzigen allabendlich vertrauten Bierflasche fest. Doch Norman zeigt deutlich seine Freude über unser Erscheinen. Wir dürfen uns häuslich bei ihm einrichten. Schnell vergehen die Tage in Shanghai. Wir verbringen die meiste Zeit mit dem Schreiben von Reiseberichten. Dann lernen wir aus Sachsen kommende Studenten kennen, die hier an der Shanghaier Tongji-Universität für ein Jahr einen Austausch absolvieren. Mit ihnen verbringen wir einige Abende. Dann drückt uns so langsam der Schuh. Schliesslich liegt der schwierigere Teil noch vor uns. Schweren Herzens schaffen wir uns endlich nach zwei einhalb Wochen von dieser mir sehr sympatisch gewordenen Stadt zu verabschieden, und wer weiss, ob wir nicht, auf welchem Wege auch immer, diese grossartige City noch einmal besuchen werden. Ein letztes Mal kämpfen wir uns durch die uns schon so vertrauten, verstopften , vielgeschäftigen Gassen, um uns dann auf einer der vielen Ausfallstrassen der Stadt nach Westen zu verlieren. Schon nach eins, zwei Tagen haben wir uns schon wieder an unser modernes Nomadenleben gewöhnt. Lo's gematschter Fuss zeigte nach abermaligen Röntgen in Shanghai doch einen winzigen unscheinbaren Bruch. So wurde der Fuss kurzerhand in einen Stützschuh gesteckt und trägt nun Schuld für zahlreiche mitleidige Blicke der uns umgebenden Chinesen. Unser vorläufiges Ziel markiert der berühmte Drei-Schluchten-Staudamm. Die sommerähnlichen Temperaturen unseres Shanghai-Aufenthaltes begleiten uns weiter, bis eines Tages während der Fahrt die Temperatur schlagartig um 15 Grad fällt. Verdutzt und überrascht kramen wir unsere dicken Sachen hervor. Der nächste Tag bringt uns erneute 5 Grad näher dem Nullpunkt und da bei solchen Szenarien der Regen nicht fehlen darf, nässt kurz darauf unangenehme Feuchte erneut unsere Kleidung. Bibbernd, frierend halten wir trotzdem stur unseren Kurs. Schon seit Kilometern fahren wir ungeduldig am Jiangtsekiang stromaufwärts. Dann umgeben uns malerisch hübsche Berge, in dessen tiefen Schluchten der mächtige Fluss dahinrauscht. Irgendwann versperrt uns ein Schlagbaum die Zufahrt zum Staudammareal. Alle Überredungskunst endet in einem " Meejo !" ( Gibt's nicht!). So sind wir gezwungen, die bösen Buben zu spielen. An einer anderen Absperrung sehen wir einen wild gestikulierenden Kontrollposten während wir verwundert vorbeifahren. Die nächsten Wachmänner geben sich schon weniger "arscherregt" , bis niemandem mehr auffällt, dass wir da sind, wo wir eigentlich nicht sein dürfen. So stehen wir dann vor dem gigantischen Bauwerk. Über geschätzte 2000 Meter erstreckt sich eine überdimensional hohe und fette Staumauer. Ihr südliches Drittel überragen noch Kräne. Sichtlich fehlt diesem Segment auch noch die letzte Vollendung. Daneben schiessen die Wassermassen in ohrenbetäubendem Lärm aus einer Öffnung der Betonwand in die Tiefe. Unten beruhigt sich der Fluss schnell und fliesst, als wenn nichts gewesen wäre in seinem natürlichen Bett malerisch von dannen. Am nördlichen Mauerende bewältigen zwei Schleusenspuren in 5 aufeinanderfolgenden Absätzen den enormen Höhenunterschied. In zweigeteilter Fassungslosigkeit steh ich vor dieser bemerkenswerten Sehenswürdigkeit. Auf der einen Seite begeistert mich solch geballtes Mass an gekonnter Ingeneursleistung, vor der ich nur meinen Motorradhelm abnehmen kann. Die andere Seite der Medaille beschreibt mein Entsetzen. Welch' bodenlose Ignoranz vor der besonders hier verzaubernden Schönheit und Perfektion der Natur ist von Nöten, um auf so brachiale Weise Gottes Werk zur Vergewaltigung zu zwingen. Ganze Städte und Landstriche sind zur Zeit Zentimeter um Zentimeter am Versinken in den Fluten des Jiangtse. Nur aus Prestigegründen muss hier das paradieshafte Bildnis der Natur weichen. Fast täglich durchfahren wir kleinere bis übergrosse Strassenbaustellen. Überall wird in diesem Land gewerkelt. So lobenswert die den Bienen gleiche Emsigkeit der Chinesen auch hervorzuheben sei, genauso streng bedarf sie auch des Tadels. Doch da mir bei diesem sch ...sch ... schlechtem Wetter schon kalt genug ist, erfreue ich mich lieber am Wunderwerk der Technik. Ein Blick auf unsere Karte schmiedet neue Pläne. Der Staudamm wäre geschafft. Nun hält uns nichts mehr in diesen Breitengraden und so steuern wir ab heut weiter südlicher liegende und hoffentlich wärmere Gefilde an.