Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. An diesen Satz denke ich oft, wenn wir wieder auf den Strassen unterwegs sind und jeden Tag andere Orte, andere Menschen und andere Bräuche kennenlernen. Nach dem ersten Reisetag spüren wir, das sind Markus (kurz: Lo) und ich, Rayko (kurz: Mo), wie der Stress der letzten Tage immer mehr in Vergessenheit gerät. Der Körper entspannt sich allmählich.
Wir versuchen, unseren Tagesrhythmus zu finden. Langsam lernen wir, wo wir welche Dinge verstaut haben, vieles lässt uns trotz Zelt und Schlafsack einen relativ hohen Lebensstandard beibehalten. Morgens mit Kaffee und Tee, Käse und Wurst und allem, was zu einem guten Frühstück gehört, gehen wir dem Tag ruhig und gelassen entgegen. Wenn die Tagebücher, Briefe an die Lieben und Reiseberichte geschrieben sind, werden noch einige Kleinigkeiten erledigt und man verständigt sich über das Tagesziel. Dabei ist selten ein Etappenziel bekannt, es handelt sich mehr um die Fahrtrichtung und die Entfernung, die man beabsichtigt zurückzulegen.
Dann wieder auf dem Bock kommen mir viele Gedanken. überwältigt von den Eindrücken, erstaunt und gerührt von der polnischen Gastfreundschaft versuche ich die Erlebnisse während der Fahrt zu verarbeiten. Oft komme ich gar nicht dazu, weil es viel Interessantes zu entdecken gibt. Die sich immer anders gestaltende Landschaft, die mit Pferd und Pflug arbeitenden Bauern auf dem Feld (selten sieht man Traktoren oder ähnliches), die Hirten, die manchmal nur auf ein einziges Tier aufpassen, viele im Rohbau befindlichen Einfamilienhäuser, die nicht fertig gebaut wurden und vieles mehr lässt unser Auge ständig umherwandern.
Freundliche Leute am Strassenrand, die uns grüssen während wir vorbeifahren, geben uns ein angenehmes Gefühl. Besonders einfallsreich konstruiert und nostalgisch anmutend sehen wir überall auf dem Land die auf fast jedem Grundstück angelegten Brunnen. Ein Zeichen dafür, dass es kein fliessendes Wasser gibt.
Polen hat sich in den letzten Jahren gut erholt. Neben vielen alten Häusern sieht man zahlreiche Neubauten, die den Unseren in Architektur und Farbgestaltung in nichts nachstehen. Neben Polski Fiat, Wartburg und Lada sind auch die westlichen Automarken nicht selten anzutreffen. Es gibt Coca Cola, Maggi Tütensuppen und Ferrero Küsschen zu kaufen, aber auch alle Produkte in polnischer Ausfuehrung. Kurz, Polen ist auf dem besten Weg, sich dem westlichen Vorbild anzunähern. Diese Annäherung verspricht den Polen eine deutlich spürbare Verbesserung ihrer wirtschaftlichen Lage. Schade ist nur der Verlust der eigentlichen Werte, die sie wirklich reich machen. Das Leben auf dem Land ist hier wirklich nicht einfach, doch gerade deswegen besteht ein um so intensiverer Kontakt zur Natur, als es in den schon westlich geprägten Ländern der Fall ist. Ihre Musik ist noch grösstenteils traditioneller Herkunft und mit polnischen Texten. Nur manchmal hört man Dancefloor oder sogar Technomusik.
Es gibt viele Anzeichen der Veränderung. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass Polen sich seiner eigenen Identitaet bewusst ist und sie bewahrt. Wenn wir uns abends einen geeigneten Bauernhof für unser Zelt suchen, merken wir immer wieder, wie Misstrauen und Gastfreundschaft bzw. Hilfsbereitschaft gegeneinander kämpfen und spätestens beim zweiten Versuch dürfen wir auf einer Wiese neben dem Haus zelten und die Moppeds parken. Mehr brauchen wir nicht, doch jedesmal dauert es nicht lange, bis erste Gesten der so herzlichen Gastfreundschaft uns entgegengebracht werden. Das reicht dann von einfachen Gaben, wie Kartoffeln, Eiern oder Milch bis hin zu kompletten Mahlzeiten. Ständig stehen wir vor der Entscheidung abzulehen und somit den Gastgeber womöglich zu beleidigen oder anzunehmen und unser schlechtes Gewissen zu stärken. Meist haben wir so und so keine Chance. Diese Art und Weise zu reisen ermöglicht uns einen intensiven Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung und so erhalten wir bald ein grobes Bild über die polnischen Lebensverhältnisse.
In der Nähe von Cestochowa überredet uns sogar eine polnische Familie, einen Tag länger zu bleiben. Wir nutzen das Angebot und fahren am nächsten Morgen ohne das lästige Gepäck in die 120 km entfernte Stadt Krakau. Es gefällt uns dort sehr gut. Die Innenstadt ist malerisch. Auf dem grossen Marktplatz tummeln sich vor allem junge Menschen. Kein Wunder, denn Krakau ist eine der ältesten Universitätsstädte Europas. Mit ihren 130.000 Studenten, dem grossen Marktplatz, dem alten Schloss auf dem Wawel und den vielen kleinen Gassen gewinnt diese Stadt sofort meine Sympatie. Wieder zurück bei der Familie kommen wir erneut nicht dazu unseren gekauften Lebensmittel zu verzehren. Es wartet ein fettes Abendbrot auf uns. Der Abend wird sehr schön. Morgens heisst es Abschied nehmen, was uns schon nach zwei Tagen schwer fällt, doch wir haben keine Wahl. Auf uns wartet die polnisch-ukrainische Grenze.